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Wort und Klang

 

Am Anfang war das Wort.
Die Erschaffung durch das Wort oder besser durch die Schwingung des Wortes findet sich in vielen Kulturen. Im Johannisevangelium (1,1.3) heißt es: “Am Anfang war das Wort. Das Wort war bei Gott. Und Gott war das Wort. Alle Dinge sind durch das Wort gemacht”. Ähnlich wird es auch im Schöpfungspsalm aus den Höhlen von Qumran am Toten Meer beschrieben. Die Erschaffung durch das Wort wird in einem Hymnus an den Mondgott Sin der Stadt Ur aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. Beschrieben, in Tahiti ist es Ta’aroa, der ruft, bei den Maori in Neuseeland Io, der die Worte spricht: “Dunkelheit erfülle dich mit Licht” und das Licht erschien.

 

In Indien ist es Brahma, der am Anfang unabhängig von Raum und Zeit im formlosen Reich der Gedanken einen Laut erzeugt, der über das Nichts hinaus schwang. In Ägypten hieß es, dass Amun inmitten des Schweigens zu sprechen begann. Sein Ruf erschallte und brachte die Geschöpfe zur Welt und bewirkte, dass sie leben (nach einem Hymnus aus dem 15 Jahrhundert v. Chr.). In Memphis in Unterägypten heißt der Schöpfergott, der alles was erdacht wurde durch die Kraft seiner Worte ins Leben rief, Ptah.

 

Auch bei unseren indigenen europäischen Ahn*innen wurde die Welt aus Klang erschaffen: Die nordische Edda berichtet von der gähnenden Leere Ginnungagap, in der der Funken des Feuers Muspellheims mit dem Wasser des Brunnen Hvergelmirs mischte. Aus der Schmelze entstand der Riese Ymir, den eine Kuh aus dem Eise leckt und den sie mit ihrer Milch säugte. Das Göttergeschlecht der Asen erschlug Ymir und baut aus ihm die Welt. Ymir bedeutet im alt-norwegischen „Klang“.

 

Und so verstehe ich auch die Wortmagie als Klangmagie, in der durch mal mehr, mal weniger artikulierte Töne und durch Tönen Energie gebahnt, geleitet wird. Es ist uns vertraut, dass in emotional bewegenden Momenten, zum Trost, zur Heilung, im Schmerz, in größter Wut und höchster Freude Töne aus uns hervorbrechen, unartikuliert und instinktiv, aber unmissverständlich für alle, die sie hören. Wir haben ein kollektives Wissen davon, was wie wann klingt, vom nächtlichen Wolfsgeheul bis zum ersten Schrei eines Neugeborenen.

 

Jeder Schöpfungsmythos bei allen Völkern dieser Welt beginnt mit dem Chaos, das als bedrohlich und verwirrend empfunden wird. Aufgabe und Inhalt jeder Schöpfung ist es, dieses Chaos zu überwinden und in eine Ordnung umzuwandeln. Übertragen gilt auch für die Wortmagie, für das gesprochene Wort in heilerischen Zusammenhängen, dass der ins Ungleichgewicht gebrachte Mensch [= erkrankte] durch die Kraft des richtigen Wortes erinnert und befähigt wird, in die ihm eigene Ordnung zurück zu kehren [= gesund zu werden].

 

Dieses Tönen und Lautgeben kann geübt und in der Heilarbeit eingesetzt werden. Je nach Klient variiert der Klang in Lautstärke, Intensität, Tonhöhe und Artikulation. Es können einzelne Worte kommen, ganze Sätze, Lieder (bekannte und unbekannte), unartikulierte Töne, Fremdsprachen oder unbekannte, „sinnlos“ klingende Sprachen („Gibbern“), Tonfolgen, Grunzen, Schnaufen … und was da kommt, muss für weder für den/die Tönenden Sinn ergeben, noch für die Person, die behandelt wird - obwohl es häufig vorkommt, dass die empfangende Person Worte, Töne und Lieder wiedererkennt. Der/die Tönende gibt sich ganz in den Dienst der Person, die Heilung sucht und lässt sich von dem, was da kommt durchfließen, stellt sich – frei von Intention - als Kanal zur Verfügung. Die innere Haltung ist alles. „Es“ tönt. „Es“ tönt uns. Und „es“ spricht. In der schamanischen Heilarbeit ist es die Erfahrung, dass es uns drängt, Laut zu geben, „es“ will gesprochen, will getönt sein.

 

Und wenn wir es durch uns tönen und sprechen lassen, dann sprechen wir „wahr“. Rufen die Dinge bei ihrem wahren Namen, so dass „es“ folgen „muss“. In der Regel haben wir nach der Arbeit gleich wieder vergessen, was wir getönt, gesungen oder gesprochen haben .. und das ist okay. Wir müssen nichts davon erinnern, wenn die Arbeit getan ist. Verschiedene magische Schulen sind seit dem Mittelalter auf der Suche nach den wahren Namen der Dinge und Wesen, um Macht auszuüben über sie – damit hat die Wortmagie, die ich hier beschreibe, jedoch nichts zu tun.

 

Um den Kanal der Wortmagie zu öffnen ist es hilfreich, eine Reise zur Großmutter Spinne bzw. zur Frau Holle zu unternehmen und sich von ihr das eigene Heillied zu erbitten. Dieses uns ureigenste Lied zu singen eröffnet in uns den Kanal für alle Heillieder und Heiltöne des Universums. Wichtig: Das ist keine Initiation im Sinne von „geheimem Wissen“ o.ä., das ist unser aller Geburtsrecht; in unserer westlichen Kultur ist nur das Wissen darüber, der Zugang dazu, für die meisten Menschen verschüttet gegangen und muss erinnert werden.

Bärenumarmung!
Urs Grágás Bärenkräfte Barth